Von: Oberreichsbahnrat Franz Josef Waldmann, Direktor der Eisenbahnbetriebsdirektion Warschau, und Max Heydmann, Dezernent der Eisenbahnbetriebsdirektion Warschau
Aus: Verkehrstechnische Woche, Heft 38/39, 34. Jg., 18./25. September 1940
In rastloser Arbeit hat die Ostbahn den Wiederaufbau der insbesondere im Raume Warschau, infolge der hartnäckigen Verteidigung dieser Stadt, besonders stark zerstörten Bahnanlagen soweit vorangetrieben, daß am 12. Juni 1940 auch der elektrische Betrieb auf den von Warschau ausgehenden Vorortstrecken eröffnet werden konnte, nachdem auf einzelnen Teilstrecken schon seit 15. April 1940 umfangreiche Probefahrten ausgeführt wurden. Viel bisher totes Kapital, das in den seit Kriegsbeginn nutzlos abgestellten elektrischen Triebwagenzügen und elektrischen Lokomotiven sowie auch in ortsfesten Anlagen festgelegt war, ist dadurch wieder mobil gemacht, und manche Dampflokomotive, die bisher die Züge dieser Strecken fuhr, sowie viele Personenwagen sind wieder freigeworden für andere Verwendung.
Es ist nun ein kurzer Rückblick auf die Gründe gerechtfertigt, welche die ehemaligen polnische Staatsbahn zur Einführung dieses elektrischen Zugbetriebes bestimmten; denn diese Gründe waren trotz der nach Beendigung des Polenfeldzugs wesentlich veränderten Verhältnisse, immer noch schwerwiegend genug, um die Ostbahn zu veranlassen, die durch unmittelbare und mittelbare Kriegseinwirkungen stark beschädigten Anlagen wiederherzustellen. Sie waren, kurz zusammengefaßt, folgende:
- Die starke Verkehrsbelastung des Warschauer Knotenpunktes im allgemeinen, die eine auf mehrere Jahre verteilte Umgestaltung der Bahnanlagen schon ab 1930 nötig gemacht hatte,
- die besonders schwierigen Verhältnisse, die sich anschließend auf der neu geschaffenen Verbindung Warschau Westbahnhof–Hauptbahnhof–Tunnel–Weichselbrücke–Ostbahnhof ergaben (bei Dampfbetrieb starke Verqualmung der Tunnels),
- die zu erwartende fortschreitende Steigerung der Zugszahlen auf der unter Ziff. 2 angeführten Verbindungslinie und
- die Notwendigkeit, den immer mehr wachsenden Vorortverkehr grundlegend zu verbessern.
Vor der im Jahre 1930 begonnenen Umgestaltung der Bahnanlagen wurde Warschau durch sechs Hauptbahnlinien bedient, von welchen vier – Deblin (Brest-Litowsk), Siedlce, Bialystok und Mlawa (Deutsch Eylau) – auf dem rechten Weichselufer sowie zwei – Tschenstochau und (Posen) Kutno – auf dem linken Weichselufer in je zwei Warschauer Bahnhöfe mündeten. Als einzigste Verbindung zwischen den auf beiden Weichselufern gelegenen Bahnhöfen, bestand eine die Stadt nordöstlich umfahrende Ringlinie, die jedoch vorwiegend dem Güterverkehr diente und ziemlich ausgelastet war. Es ergab sich daher als Grundgedanke des damals gefaßten Umbauplanes die Trennung des Reise- und Güterverkehrs innerhalb des Stadtgebietes durch Neubau einer Querlinie vom damaligen Westbahnhof (sog. Wiener Bhf.) über die Weichsel zum Ostbahnhof, die den gesamten Reiseverkehr bewältigen sollte, während der Güterverkehr ausschließlich auf die bereits bestehende Ringlinie verwiesen wurde. Ähnlich den Berliner und auch für München vorgesehenen Verkehrsregeln, sollten alle von Osten kommenden Reisezüge über die Querlinie, den Hauptbahnhof und Westbahnhof zu einem Abstellbahnhof West geleitet und dort aufgelöst werden, während umgekehrt die von Westen kommenden Reisezüge über den Hauptbahnhof, die Querlinie und den Ostbahnhof zu einem Abstellbahnhof Ost weitergeführt werden sollten. Der Westbahnhof ist also Ausgangs- und Endbahnhof für alle nach Osten gehenden oder von dort kommenden Reisezüge; der Ostbahnhof übernimmt die gleiche Aufgabe für die Reisezüge nach oder aus westlicher Richtung. Es werden demnach die Personenbahnhöfe Warschau West, Warschau Haupt und Warschau Ost zu reinen Durchgangsbahnhöfen für den Reiseverkehr; auf ihrer Verbindungslinie aber entsteht ein derart dichter Verkehr, daß er – nicht zuletzt auch wegen des in Richtung Ost—West in der Steigung von 1:80 gelegenen 1200 m langen Tunnels – nur durch elektrischen Betrieb befriedigend bewältigt werden kann. Die Verqualmung des Tunnels und die langen Fahrzeiten bei Dampfbetrieb werden durch Verwendung der „bergfreudigen” elektrischen Triebfahrzeuge vermieden, deren hohe Anfahrbeschleunigung zugleich beiträgt, in Verbindung mit einer neuzeitlichen Sicherungsanlage, die nötige Zugfolgedichte zu erzielen.
Die Überlegenheit des elektrischen Vorortbahnbetriebes über den Dampfbetrieb, auch auf den Flachlandstrecken, ist dem deutschen Leser so bekannt, daß hier ihre stichwortweise Aufführung genügt, nämlich: hohe Anfahrbeschleunigung und Streckengeschwindigkeit, dichte Zugfolge, rasche Einsatzbereitschaft, sauberer, rauchfreier Betrieb und hohe Wirtschaftlichkeit. Die elektrische Betriebsform wurde als einzig brauchbare Lösung der Warschauer Verkehrsnöte erkannt. Im Juni 1932 wurde das Programm aufgestellt und im Jahre 1933 mit zwei englischen Firmen (English Electric und Metropolitan Vickers) der Liefervertrag abgeschlossen. Mitte 1937 wurde der elektrische Betrieb aufgenommen auf den Strecken:
Warschau—Zyrardow | 43,1 km |
Warschau—Otwock | 27,5 km |
Warschau—Minsk (Mazowiecki) | 36,4 km |
das sind zusammen 107 km zweigleisige Strecke, der später weitere Vorortstrecken folgen sollten (Blonie, Warka, Modlin und Tluszcz).
Als Stromsystem wurde nach umfangreichen Vorerhebungen Gleichstrom mit 3000 V Fahrdrahtspannung gewählt, da es sich hier nicht um Fernbahnen, sondern in der Hauptsache um kürzere Vorortstrecken handelte und die Errichtung eigener Kraftwerke erspart werden sollte. Die Verwendung von Gleichstrom war hier, wenn auch nur mit geringem Vorsprung, die wirtschaftlichste Lösung.
Die zur Speisung der elektrischen Strecken notwendige Energie wird als Drehstrom von 35.000 Volt Spannung von der Überlandzentrale Pruszkow und dem Städtischen Elektrizitätswerk Warschau gemeinsam bezogen und über Fernleitungen an die längs der einzelnen Strecken verteilten Gleichrichter-Unterwerke geliefert. Die Länge der Fernleitungen beträgt 130 km, davon sind 100 km Freileitungen und nur 30 km Hochspannungskabel; die Kabelleitungen verlaufen größtenteils innerhalb des Stadtgebietes.
In den Gleichrichter-Unterwerken, von denen jedes einen Streckenabschnitt mit Strom versorgt, wird die auf Freileitungen oder Kabel ankommende Drehstromenergie mit 35.000 Volt Spannung über eine im Freien aufgestellte Schaltanlage, d. h. über Trennschalter, Sammelschienen und Ölschalter zu den Freilufttransformatoren geleitet, die für 2.500 bzw. 2.000 kW Leistung ausgelegt sind und die Hochspannung auf die Gleichrichterspannung herabsetzen. Von diesen Transformatoren fließt die Energie zu den in unmittelbar anschließenden Gebäuden untergebrachten Gleichrichtern von je 2.500 bzw. 2.000 kW Leistung, in welchen der Drehstrom durch die Ventilwirkung des Quecksilberdampfes in Gleichstrom von 3.000 Volt Spannung umgerichtet wird. Zu jedem Transformator gehört ein Gleichrichter gleicher Leistung. Der Gleichstrom wird dann über Schnellschalter, die bei Streckenkurzschluß selbsttätig abschalten, in die Fahrdrahtanlage geschickt; für jedes Gleis und jede Fahrrichtung ist ein solcher Schnellschalter vorgesehen und die Strecke so in Abschnitte aufgeteilt, daß Störungen sich immer nur in einem kleineren Teilabschnitt auswirken können. Es sind insgesamt sechs Gleichrichter-Unterwerke vorhanden. Die gesamte, in den sechs Unterwerken eingebaute elektrische Leistung beträgt 30.500 kW (41.500 PS).
Die Oberleitung für die Fortleitung des Triebstromes (Fahrdrahtanlage) besteht zwischen Pruszkow und Warschau Ost aus zwei Fahrdrähten, auf den anschließenden Strecken aus einem Fahrdraht aus Hartkupfer von 100 mm² Querschnitt, die mittels eines Bronzeseiles von 70 mm² Querschnitt und senkrechten Hänger in Vielfachaufhängung an eisernen Auslegermasten aufgehängt sind. Die Masten weisen einen durchschnittlichen Abstand von 70 m voneinander auf. Die Ausleger sind mittels Isolatoren drehbar an den Masten befestigt, Fahrdraht und Tragseil werden durch an den Endmasten jeden Fahrdrahtfeldes aufgehängten Gewichte so gespannt, daß der Fahrdraht praktisch waagerecht – ohne Durchhang – liegt. Ein Fahrdrahtfeld ist etwa 1200 bis 1300 m lang. Die einzelnen Felder überdecken sich, so daß die Stromabnehmer der Fahrzeuge während der Fahrt dauernd am Fahrdraht anliegen.
An den Grenzen der Unterwerksbezirke werden diese durch selbsttätige Höchststromschalter miteinander verbunden, so daß in der Regel alle Werke gemeinsam arbeiten; im Störungsfalle wird der gestörte Bezirk ebenso selbsttätig abgetrennt.
Es standen folgende Triebfahrzeuge zur Verfügung:
a) | für die Förderung der mit Dampflokomotiven im Ostbahnhof bzw. im Westbahnhof ankommenden Reisefernzüge über die den Tunnel enthaltende Querlinie nach den Abstellbahnhöfen: Sechs Lokomotiven der Gattung Bo’Bo’. Die Lokomotiven haben zwei Drehgestelle mit je zwei motorisch angetriebenen Achsen; die vier Motoren ergeben zusammen eine Dauerleistung von 1.340 kW bei 68 km/Std. (Stundenleistung = 1.640 kW). Jede Lokomotive entwickelt eine Anzugkraft von 16.300 kg (Dauerzugkraft 7.000 kg); die Höchstgeschwindigkeit der Lokomotive, die später auch Züge über weitere Entfernungen fördern sollte, beträgt 100 km/Std. Die Lokomotive wiegt 78.000 kg. Vier Rangierlokomotiven für leichten Rangierbetrieb, ebenfalls Gattung Bo’Bo’, deren Triebdrehgestelle die gleichen sind, wie diejenigen der nachstehen beschriebenen Triebwagen |
|
b) | für den Vorort-Reiseverkehr: insgesamt 76 Triebwageneinheiten. Jede Einheit besteht aus einem vierachsigen Triebwagen und zwei kurzgekuppelten Anhängewagen auf drei zweiachsigen Drehgestellen, wobei das mittlere Drehgestell beiden Anhängewagen gemeinsam ist |
|
Gewicht des Triebwagens | 55 t | |
Gewicht der zwei Anhängewagen | 69 t | |
Gesamtgewicht der Betriebseinheit | 114 t | |
Länge der Betriebseinheit | rd. 60 m | |
Fassungsraum je Betriebseinheit | normal 350 Personen, höchstens 500 Personen |
|
Elektrische Leistung des Triebwagens zu je vier Triebmotoren | dauernd 425 kW, Stunde 600 kW |
|
Höchstgeschwindigkeit | 85 km/Std. | |
Jeder Motor treibt eine Achse der beiden zweiachsigen Drehgestelle des Triebwagens an. |
Je nach Verkehrslage werden im Betriebe sowohl eine Einheit allein gefahren, wie auch zwei oder drei Betriebseinheiten über selbsttätige Kupplungen Bauart „Scharfenberg” mit einander gekuppelt. Die so zusammengekuppelten Züge werden mittels der sog. Vielfachsteuerung von einem Führerstand aus gesteuert. An jedem Zugende befindet sich ein Führerstand, so daß der Zug, ohne drehen zu müssen, in jeder Fahrrichtung fahren kann.
Die Gesamtkosten der Umstellung auf elektrischen Betrieb betrugen 130 Millionen Zloty. Dafür wurde aber eine Verkehrssteigerung von 40 % erreicht. Die Bedeutung der elektrischen Zugförderung geht daraus hervor, daß etwa 20 % der von den Polnischen Staatsbahnen jährlich überhaupt beförderten Personen auf den elektrisch betriebenen Strecken fuhren.
Während der Kämpfe in und um Warschau im September 1939, wurden die Anlagen für die elektrische Zugförderung weitgehend beschädigt. Die umfangreichsten Zerstörungen erlitten die im Stadtgebiet von Warschau selbst gelegenen Anlagen. Nach der Übergabe Warschaus, stellten die deutschen Eisenbahner folgenden Zustand fest:
- Das beim Abstellbahnhof Warschau West gelegene Ausbesserungswerk mit angebautem Betriebswerk war völlig ausgebrannt und zerstört. Nur ein Triebwagenschuppen im Abstellbahnhof Warschau Ost (Grochow) war wenig beschädigt.
- Die beiden Elektrizitätswerke, die Bahnstrom lieferten, waren fast vollkommen erhalten geblieben, dagegen etwa 31 km Hochspannungskabel im Stadtbereich (Weichselbrücke), schwer beschädigt.
- Von den sechs Gleichrichter-Unterwerken waren bei den wichtigsten, die im Freien stehenden Anlagen (Schaltgeräte, Transformatoren) durch Geschosse und Bombensplitter schwer beschädigt; die übrigen vier Werke hatten nur leichte Schäden erlitten.
- Die Fahrdrahtanlage war am schwersten betroffen worden. Von den etwa 200 km Gesamtlänge waren rd. 40 % gleich 80 km, fast restlos vernichtet. Tragseile und Fahrdraht waren zerschossen und – zur Freimachung der Strecke für den Dampfbetrieb – abgeschnitten worden, die Tragmasten waren umgebrochen, die Ausleger zerstört und die Isolatoren zerstört. Zwischen Warschau West und Warschau Ost war die Fahrdrahtanlage völlig beseitigt.
- Von den 76 Triebwageneinheiten waren 13 völlig zerstört (ausgebrannt), 23 schwerstens und 40 mittelmäßig zerstört, die Ledersitze der II.-Klasse-Abteile restlos entwendet und die Wagenwände durch Geschosse und Splitter stark mitgenommen.
- Von den zehn elektrischen Lokomotiven waren vier völlig zerstört, zwei schwer beschädigt und nur vier in einem Zustand, der ihre Wiederherstellung ohne allzu großen Aufwand möglich erschienen ließ.
Dieser Zustand verschlimmerte sich noch durch die unvermeidlichen Zusatzschäden, die eine stilliegende und nicht überwachte hochwertige elektrische Anlage stets bedroht. Die Materialdiebstähle (Kupfer, Eisen, Holz, Leder, Öl usw.) und die Witterungseinflüsse verschlechterten den Zustand zusehends, so daß die Frage gestellt wurde, ob eine Wiederherstellung der Anlage möglich und wirtschaftlich vertretbar sein könne.
Daß diese Frage schließlich doch in bejahendem Sinne entschieden wurde, ist unter anderem den Umständen zuzuschreiben, daß
- der stark zerschossene Stadtkern von Warschau als Wohnzentrum ausfallen wird, mit der Folge, einer Umsiedlung eines großen Teils der arbeitenden Bevölkerung in die Umgebung der Stadt, weshalb künftig ein immerhin noch recht beachtlicher Vorort- und Berufsverkehr bewältigt werden muß,
- die Erhaltung des wertvollen Anlagevermögens des elektrischen Betriebes wirtschaftlich gerechtfertigt erschien und
- eine fühlbare Entlastung des Dampflokomotiv- und Wagenparks sowie der Warschauer Bahnanlagen durch Wiederherstellung des elektrischen Betriebes zu erwarten war.
Die Wiederherstellung mußte jedoch mit geringstmöglichem Aufwand an Geld durch bahneigenes Personal und möglichst durch Aufarbeitung und Verwendung vorhandener, aber beschädigter Stoffe und Anlagen erfolgen. Diese Grundsätze sind während der nunmehr verflossenen sechs Monate des Wiederaufbaues dieses Teilgebietes voll eingehalten worden. Während des Winters, der infolge seiner außergewöhnlichen Härte alle Arbeiten im Freien sehr schwierig gestaltete, wurden die Altstoffe gesammelt, aufgearbeitet und bereitgestellt sowie an der Instandsetzung der Bauzüge, der ortsfesten Anlagen, der Fahrzeuge und der Sicherungsanlagen in den Stellwerksgebäuden gearbeitet. Unter anderem mußten bei niedrigsten Außentemperaturen (bis -35°) 62 Fahrleitungsmaste neu gesetzt sowie alle Ausleger und Isolatoren angebaut werden, damit bei Eintritt wärmerer Witterung die eigentliche Aufbauarbeit schnellstens bewältigt werden konnte. Diese Aufbauarbeit wiederum bot große Schwierigkeiten, weil – wegen starker Streckenbelastung mit Dampfbetrieb – an den elektrischen Außenanlagen vorwiegend nur in den Nachtstunden gearbeitet werden konnte. Trotzdem ist es, nachdem schon am 15. April die Südoststrecke Warschau Ost—Otwock (23 km) in Probebetrieb genommen worden war, gelungen, bis 20. Mai die Strecke Warschau Ost—Hauptbahnhof—Pruszkow (20 km), bis 25. Mai das anschließende Teilstück Pruszkow—Grodzisk (15 km) und am 1. Juni die Reststrecke bis Zyrardow (10 km) elektrisch betriebsfähig zu machen. Heute stehen 70 km zweigleisige Strecke, 6 Unterwerke, 40 Triebwagenzüge und 1 elektrische Lokomotive sowie ausgezeichnete Stellwerks- und Signalanlagen dem Betriebe zur Verfügung, der damit allen zu erwartenden Verkehrsanforderungen gerecht werden kann.
Die Strecke zwischen Warschau Ostbahnhof und Westbahnhof war unmittelbar vor dem Kriege täglich mit 109 elektrischen Vorortzugpaaren belastet, von denen 73 bis Puszkow, 40 bis Grodzisk und 27 bis Zyrardow weitergeführt worden. Im Osten wurden 55 elektrische Zugpaare bis Otwock, 43 Zugpaare bis Rembertow und 25 bis Minsk Maz. durchgeführt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß hier nicht etwa besondere Vorortstreckengleise zur Verfügung standen, sondern daß Vorort- und Fernverkehr dieselbe zweigleisige Strecke benutzten, die dadurch mit insgesamt 206 Zugpaaren täglich außerordentlich belastet wurde.
Bei einem derart dichten Verkehr war die polnische Staatsbahn gezwungen, nicht nur die Strecken zu elektrisieren, sondern auch die Signal- und Stellwerksanlagen im Raume von Warschau neuzeitlich auszubauen, um die nötige Sicherheit und Schnelligkeit der Betriebsabwicklung zu gewährleisten. Während die übrigen Eisenbahnsicherungsanlagen des heutigen Generalgouvernements für die besetzten polnischen Gebiete allgemein verhältnismäßig einfach gehalten sind, bestehen im Raume von Warschau 15 elektrische Kraftstellwerke, und zwar:
8 Stellwerke der deutschen Bauart „Vereinigte Eisenbahnsignalwerke (VES 1912)”,
6 Stellwerke der schwedischen Bauart „Ericsson” und
1 Stellwerk der englischen Bauart „Westinghouse”.
Die Bahnhöfe der elektrisierten Strecken sind mit Lichttagessignalen der Bauart „Ericsson”, ferner mit elektrischen Gleisbesetzteinrichtung und Gleistafel ausgerüstet. In den Stellwerksgebäuden ist Anschluß an das Bahnnetz 200/380-V-Wechselstrom vorhanden und meist auch 136-Volt-Batterie. Beim Versagen des Netzes werden die Lichttagessignale und Gleichstromkreise über Einankerumformer aus der 136-Volt-Batterie gespeist, die über Trockengleichrichter aus dem Netz gepuffert wird. Notstromaggregate für Gleich- und Wechselstrom sind fast überall vorhanden.
Wegen des besonders dichten Verkehrs zwischen Warschau Ostbahnhof und Pruszkow ist selbsttätiger Streckenblock eingerichtet, und zwar: zwischen Warschau Ostbf. und Westbf der englischen Bauart „Westinghouse” und zwischen Warschau Westbf. und Pruszkow der schwedischen Bauart „Erisson”. Beim selbsttätigen Streckenblock wird das Freisein der Gleise abschnittsweise durch einen elektrischen Strom, der durch die Fahrschienen geschickt wird überwacht. Die Blocksignale auf der freien Strecke werden selbsttätig von Zuge gesteuert und zeigen deshalb in der Grundstellung – nicht wie die übrigen Signale des Signalbild „Halt”, - sondern durch ein grünes Licht das Signalbild „Fahrt frei”. Sobald ein Zug die vom Blocksignal gedeckte Strecke erreicht hat, d. h. in die hinter diesen Signal gelegene Strecke einfährt, geht das Blocksignal selbsttätig in die Haltstellung und zeigt dann rotes Licht. Das Signal kann erst dann wieder die Fahrtstellung – und zwar selbsttätig – erreichen, wenn der Zug die beiden in der Fahrtrichtung hinter diesem Signal gelegenen Blockstrecken wieder geräumt hat. Auf diese Weise bleibt stets ein genügender Abstand zwischen zwei sich folgenden Zügen gewahrt. Fahrsperren, wie wir sie beispielsweise von der Berliner S-Bahn her kennen, die eine selbsttätige Zwangsbremsung des Zuges herbeiführen, wenn dieser etwa unachtsamerweise ein haltzeigendes Signal überfährt, sind hier nicht angewendet, sollten aber wohl noch eingebaut werden. Auf der Strecke Warschau Ost—Warschau West sind die Vorsignale mit den Hauptsignalen zu Signalen besonderer Bauart (dreibegriffige Signale) vereinigt; auf dem übrigen elektrisierten Vorortstrecken dagegen, sind die Vorsignale getrennt von den Hauptsignalen aufgestellt. Sämtliche Haupt- und Vorsignale besitzen Einzellichter. Das bei den selbsttätigen Streckenblockanlagen im Altreich verwendete Blocksignal mit dem sogenannten „bedingten Halt” (Gelb + Gelb) ist in Polen nicht eingeführt worden. Die selbsttätigen Blocksignale zeigen also hier das „absolute Halt” (Rotlicht). Für die Vorbeifahrt an einem haltzeigenden selbsttätigen Blocksignal ist daher folgende Regelung getroffen worden:
„Ist ein Zug durch ein haltzeigendes selbsttätiges Blocksignal angehalten worden und wechselt innerhalb von 4 Minuten das Signal nicht von ‚Halt’ (rotes Licht) in ‚Fahrt frei’ (grünes Licht) oder in ‚Warnung’ (gelbes Licht), so darf der Zug im Auftrage des Zugführers die Fahrt mit besonderer Vorsicht fortsetzen. Dabei ist jedoch die Fahrgeschwindigkeit so zu ermäßigen, daß der Zug vor einem etwaigen Hindernis oder Haltesignal sicher zum Stillstand gebracht werden kann. Sie darf bei Reisezügen 30 km/Std. und bei Güterzügen 15 km/Std. nicht überschreiten. Die ermäßigte Geschwindigkeit ist auch nicht auf eine Strecke von 200 m hinter dem nächstfolgenden ‚freie Fahrt’ zeigenden Hauptsignal beizubehalten. Dieselbe Bestimmung ist auch einzuhalten, wenn ein selbsttätiges Blocksignal zweifelhaftes Signalbild oder weißes Licht oder überhaupt kein Licht zeigt.”
Alle selbsttätigen Blocksignale sind durch eine dreieckige Tafel mit einem auf der Spitze stehendem schwarzen Dreieck als „selbsttätig” gekennzeichnet. Sind die selbsttätigen Blocksignale „dreibegriffig” (Strecke Warschau Ost—Warschau West), so erhalten sie als weiteres Kennzeichen noch eine rechteckige schwarzgeränderte weiße Tafel mit zwei übereinanderstehenden schwarzen Winkeln, deren Spitzen nach unten gerichtet sind.
Ähnlich wie beim selbsttätigen Streckenblock, werden auch die Gleisanlagen der mit Gleisbesetzteinrichtung versehenen Bahnhöfe durch einen sogenannten Gleisstrom überwacht. Die Einrichtung ist hier so getroffen, daß beispielsweise ein Einfahrsignal erst dann auf „Fahrt frei” gestellt werden kann, wenn das für die zu erwartende Zugfahrt benötigte Einfahrgleis frei ist, die betreffenden Weichen, Riegel, Gleissperren usw. richtigliegen und in dieser Lage verschlossen und überhaupt alle feindlichen Fahrten, die den einfahrenden Zug etwa gefährden könnten, ausgeschlossen sind. Auf einem über den Stellwerken angebrachten Schaubild, der sogenannten Gleistafel, wird dem Fahrdienstleiter und dem Stellwerkswächter jeweils elektrisch angezeigt, welche Gleise oder Weichen frei oder besetzt sind. Nur durch solche Mittel ist es möglich, einen dichten Zugverkehr schnell und trotzdem sicher abzuwickeln.
Aber auch in diese komplizierten Einrichtungen hat der Krieg mit rauher Hand vielfach eingegriffen und insbesondere die umfangreichen Kabel- und Schaltanlagen stellenweise außerordentlich stark beschädigt. Trotzdem ist es gelungen, in verhältnismäßig kurzer Zeit und ohne Inanspruchnahme von Stoffen aus dem Altreich, die Anlagen fast restlos wieder herzustellen, wenn auch die fremdländischen Bauarten uns manche Nuß zu knacken gaben.
Mit der Vollendung der Arbeiten zur Wiederherstellung des elektrischen Vorortbetriebes im Raum Warschau ist ein weiterer, nicht unwesentlicher Beitrag zur großen Wiederaufbauarbeit im Generalgouvernement geleistet worden, der u. a. die Möglichkeit gibt, die heute überstark bevölkerte Großstadt aufzulockern und dadurch gesund Wohn- und Berufsverhältnisse zu schaffen. Es darf nochmals hervorgehoben werden, daß die von der polnischen Staatsbahn im Jahre 1930 bereits in Angriff genommene große Umgestaltung der gesamten Warschauer Bahnanlagen bei Kriegsbeginn erst zu einem gewissen Teil durchgeführt war, wofür das Gebäude des neuen Warschauer Hauptbahnhofs in seinem halbfertigen Zustande heute ein treffendes Beispiel bietet. Aus dem im Oktober 1939 vorgefundenen Wirrwar in kürzester Zeit mit möglichst geringen Mitteln das Notwendigste herauszuholen und in eine sinnvolle Ordnung zu bringen, die einen geregelten und sicheren Eisenbahnbetrieb und -verkehr ermöglichte und damit vor allem den Nachschub für die Wehrmacht sowie die Versorgung der deutschen Behörden und der einheimischen Bevölkerung sicherstellte, war eines unserer Ziele, das in gemeinsamer rastloser Arbeit heute wohl zum weitaus größten Teil erreicht ist.