–  62540 Zugriffe

Der Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung der S-Bahn Berlin GmbH und des Autors der Mitarbeiterzeitung „Paula 7“ entnommen.

 

Anhalten verboten!

Die Ulbrichtkurve: Ein Stück Berliner Mauergeschichte

„Fahrgäste in Richtung Bernau fahren bis Gesundbrunnen und steigen dort um“, hieß es für fast zwei Jahre unter anderem am Bahnhof Schönhauser Allee. Doch was sich zwischenzeitlich als eine Unannehmlichkeit für unsere Fahrgäste herausstellte, war früher selbstverständlich. Eine direkte S-Bahnverbindung zwischen Schönhauser Allee und Pankow gab es nicht.

Ein Rückblick in die fünfziger Jahre: Berlin, aufgeteilt zwischen den Ost- und Westalliierten, wird mehr und mehr gespalten. Es gibt erste Überlegungen, die wichtigste Nord-Süd-Strecke Ost-Berlins, Schöneweide—Ostkreuz—Schönhauser Allee, mit der S-Bahnstrecke quer durch Pankow zu verbinden, um so den Umweg über Gesundbrunnen (West-Berlin) zu vermeiden – und den SED-Genossen den Weg durch den goldenen Westen zu ersparen. Dazu wird eine Gleisverbindung über die vorhandenen Fernbahngleise, die man mit Stromschienen ausstattet, zwischen Pankow und Schönhauser Allee geschaffen. Am 25. Dezember 1952 – während Regierungszeit Josef Stalins in der Sowjetunion – ist Eröffnung der so genannten. „Stalinkurve“. Doch der dichte Güterzugverkehr lässt nicht mehr als einen unbefriedigenden Vierzig-Minuten-Takt der S-Bahnen zu.

Die Mauer teilt Berlin und seine S-Bahn

Am 13. August 1961 um Mitternacht erhalten die Eisenbahner entlang des Grenzgebietes zu West-Berlin den Auftrag, den Zugverkehr zwischen beiden Stadthälften zu unterbinden. Weichen werden verschlossen, Gleise versperrt oder ausgebaut, Stellwerke stillgelegt, die Berliner Mauer errichtet. Fahrten zwischen Ost und West sind damit unmöglich geworden.

Gerade im Bereich des heutigen Nordkreuzes führte diese Grenzsituation zu zahlreichen Problemen. Alle Bahnanlagen liegen auf Ost-Berliner Territorium; auch die West-Berliner Strecke Gesundbrunnen—Schönholz. Gleichzeitig durchfahren Züge aus beiden Stadthälften in großer Nähe das Grenzgebiet. Staatssicherheit und Grenzorgane fürchten Fluchtversuche. Auch der Bahnhof Wollankstraße liegt auf Ost-Berliner Territorium. Die Sektorengrenze verläuft genau zwischen Bahndamm und Nordbahnstraße. So ist er zwar bis 1989 mit Ost-Berliner Personal der Dienststelle Friedrichstraße (Ost) besetzt, aber nur für West-Berliner Fahrgäste zugänglich. Der Bahnhof Bornholmer Straße wird geschlossen.

Zwischen den Gleisen am Nordkreuz wird ein zwei Meter hoher Zaun errichtet. Bis Jahresende 1961 werden alle im Grenzgebiet arbeitenden Eisenbahner überprüft und durch linientreue Mitarbeiter ersetzt.

Im August 1961 beschließt das Ministerium für Verkehrswesen den Bau einer eigenen S-Bahntrasse zwischen Pankow und Schönhauser Allee. Binnen weniger Monate wird die Strecke geplant und trotz ihrer schwierigen Lage unter laufendem Betrieb fertiggestellt. Am 10. Dezember 1961 – in der Regierungszeit Walter Ulbrichts – wird die „Ulbrichtkurve“, wie sie heute genannt wird, eröffnet.

Verschlossene Türen im Niemandsland

Für den Zugverkehr im Grenzgebiet gelten strenge Regeln. Sämtliche Züge sind angewiesen, das Terrain mit mindestens 40 Kilometern pro Stunde ohne Halt zu durchfahren. Es sollen hier keine Dampfloks eingesetzt werden, da ihre Rauchschwaden die Sicht behindern. Muss Zugpersonal auf freier Strecke im Notfall aussteigen, ist mit der Handleuchte dreimal dem nächsten Grenzposten zu blinken. Erst nach seiner Antwort ist es gestattet, den Zug zu verlassen. An orangefarbenen Pfählen gibt es Wechselsprechanlagen, um mit benachbarten Kontrolltürmen und Fahrdienstleitern Kontakt aufnehmen zu können. Die neugebaute Unterführung der S-Bahn zwischen Bornholmer Straße und Pankow unter der Fernbahn ist von den Kontrolltürmen nicht einsichtig. Darum hat man hier etliche Lichtschranken installiert, die die S-Bahnen erkennen. Läuft allerdings ein Mensch durch den Tunnel, der nicht gleichzeitig mehrere der Lichtschranken unterbrechen kann, wird Alarm ausgelöst.

An der Ulbrichtkurve ist die Mauer gefallen

Dennoch gibt es mehrere Fluchtversuche: 1984 gelingt es einem Menschen, einen Schnellzug per Notbremse zum Halten zu bringen und anschließend mit einer Metallleiter den Grenzzaun zu überwinden. Daraufhin wird der Zaun durch eine Betonmauer mit aufgesetzten Rundelementen ersetzt.

Das geschieht fünf Jahre vor der letzten Krise der DDR. In einer Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989 erwähnt Günter Schabowski, dass mit sofortiger Wirkung Genehmigungen für Besuchsreisen und eine ständige Ausreise kurzfristig erteilt würden. Reisen und ständige Ausreisen könnten über alle Grenzübergänge erfolgen. Innerhalb kürzester Zeit strömen Tausende Ost-Berliner an die Grenzübergänge der Stadt.

Die Grenzsoldaten sind völlig überfordert – haben sie doch keinerlei Weisungen zur Öffnung erhalten – können den plötzlichen Ansturm nicht mehr stoppen. Einzelne Grenzkommandanten entschließen sich, die Tore zu öffnen. Am Übergang Bornholmer Straße (Bösebrücke) geben sie gegen 23.30 Uhr zuerst dem Druck der Masse nach. Die Berliner Mauer ist gefallen.

Text: Michael Bartnik



Bilder von der„Ulbrichtkurve“


Nach dem Mauerbau entsteht in kurzer Zeit die „Ulbrichtkurve“ zwischen Pankow und Schönhauser Allee. Unter der Brücke ist noch die gekappte S-Bahn-Verbindung (Gesundbrunnen—) Bornholmer Straße—Pankow erkennbar. Der S-Bahnzug fährt auf der noch eingleisigen Strecke von Pankow nach Schönhauser Allee. Foto: ZBDR/S-Bahn Berlin GmbH


Eine Dampflok der Baureihe 52 fährt auf den Gütergleisen vom Ostring nach Pankow und passiert in Höhe des stillgelegten S-Bahnhofs Bornholmer Straße das Stellwerk Bos. Noch steht hier keine Mauer sondern ein hoher Gitterzaun. Foto: Sammlung S-Museum


Am 13. November 1989: Die Berliner Mauer fiel vier Tage zuvor und im Todesstreifen schoß niemand mehr. Dennoch ist die Teilung Berlins und seines Eisenbahnnetzes allgegenwärtig. Das Foto entstand auf der Bösebrücke (Bornholmer Straße) mit Blickrichtung Norden. Links (West-Berlin) fährt ein S-Bahnzug der Bauart Stadtbahn nach Wollankstraße, rechts (Ost-Berlin) fährt ein S-Bahnzug der Baureihe 277 im „Honecker-Lack“ nach Pankow. Foto: Mario Lange


Kurze Zeit nach dem vorangegangenen Foto fährt ein S-Bahnzug der Bauarten Wannsee- und Stadtbahn von Pankow kommend nach Schönhauser Allee. Der führende Triebwagen 275 959 gehört heute zum Bestand der betriebsfähigen Traditionsfahrzeuge. Foto: Mario Lange


Trasse der alten, 2001 außer Betrieb genommenen Ulbrichtkurve. Blick von der Behmbrücke in Richtung Schönhauser Allee. Foto: Heinz Penzin, 14. Juni 2003


Blick auf den Bahnhof Schönhauser Allee: Die Ringgleise und die neue Ulbrichtkurve (abzweigendes Gleis von Bornholmer Straße) sind bereits angeschlossen, auch die Stromschiene ist montiert. Foto: Heinz Penzin, 14. Juni 2003


Die gleiche Ansicht etwas näher: Blick auf den Bahnhof Schönhauser Allee, auf die Ringgleise und die neue Ulbrichtkurve (abzweigendes Gleis von Bornholmer Straße), die bereits angeschlossen sind, auch die Stromschiene ist montiert. Foto: Heinz Penzin, 14. Juni 2003

Zum Thema gab es am 21. Juni 2003 Sonderfahrten mit historischen S-Bahn-Zügen.